Interview mit dem Deutschen Kinderhilfswerk

Nachtrag zum internationale Weltkindertag am 20. September 2021

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Als Nachtrag zum internationale Weltkindertag am 20. September 2021 haben wir mit dem Deutschen Kinderhilfswerk ein Interview geführt. Hierfür hat sich der Bundesgeschäftsführer Herr Holger Hofmann die Zeit genommen, unsere Fragen ausführlich zu beantworten. Das Interview setzt den Fokus auf die Kinderrechte und deren Umsetzung in Deutschland. Weitere ergänzende Information zu den Kinderrechten findest du im Beitrag KENNST DU DEINE RECHTE? oder auf der Internetseite des Deutschen Kinderhilfswerkes auf www.dkhw.de

JIZ: Der Weltkindertag 2021 stand unter dem Motto „Kinderrechte jetzt!“. Was genau ist eigentlich der Weltkindertag und worum geht es bei den Kinderrechten im Allgemeinen?

Herr Hofmann: Kinder sind Menschen, die besondere Bedürfnisse in Bezug auf ihre Förderung, ihren Schutz und ihre Entwicklung haben. Aus diesem Grund haben die Vereinten Nationen vor mehr als 30 Jahren die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet und damit neben der Allgemeinen Menschenrechtserklärung einen eigenen menschenrechtlichen Vertrag für Kinder geschaffen, um ihre Verletzlichkeit, ihre Besonderheiten und ihre altersbedingten Bedürfnisse zu berücksichtigen. Entwicklung, Gleichbehandlung, Beteiligung und die Vorrangigkeit des Kindeswohls sind die Kernprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention. Der Weltkindertag soll auf diese speziellen Rechte der Kinder aufmerksam machen und Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen in den Fokus rücken. Zum Weltkindertag machen bundesweit zahlreiche Initiativen mit lokalen Demonstrationen, Festen und anderen Veranstaltungen auf die Situation der Kinder aufmerksam. In diesem Jahr steht der Weltkindertag unter dem Motto „Kinderrechte jetzt!“ Das Deutsche Kinderhilfswerk und UNICEF Deutschland unterstreichen damit im Wahljahr [Anm. der Red.: Die Bundestagswahl fand am 27.9.2021 statt], dass es dringend an der Zeit ist, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern und damit die Weichen für ein kinderfreundlicheres Deutschland zu stellen. Zum Weltkindertag finden in ganz Deutschland zahlreiche Aktionen statt, so die bundesweite Mitmach-Aktion „Kinder erobern die Straßen“, die durch UNICEF Deutschland initiiert wurde. Das Deutsche Kinderhilfswerk feiert den Weltkindertag mit einem großen „Kinderrechte-Spezial“ für Kinder in ganz Deutschland. Und das für einen ganzen Monat: Auf www.kindersache.de/weltkindertag können Kinder und Jugendliche seit Anfang September in vielen interessanten Artikeln und anschaulichen Videos Neues über ihre Rechte lernen oder ihr Wissen vertiefen.

JIZ: Wie sieht es mit den Kinderrechten weltweit aus? Wie werden sie in anderen Ländern umgesetzt? Zudem gibt es noch die UN-Kinderrechtskonvention. Welche Rolle spielt diese Vereinbarung?

Herr Hofmann: Die UN-Kinderrechtskonvention gibt als völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung den Unterzeichnerstaaten, also auch Deutschland vor, wie die Rechte von Kindern zu fördern und umzusetzen sind. Insofern spielt die Konvention als Rechtsgrundlage für die Situation von Kindern aus unserer Sicht eine ganz entscheidende Rolle. Bezüglich der Situation von Kindern weltweit müssen wir als Organisation mit dem Fokus auf Deutschland auf unsere Kolleginnen und Kollegen verweisen, die international tätig sind, beispielsweise die SOS-Kinderdörfer. Dort heißt es: „Trotz großem Fortschritt in einigen Bereichen hat die Lage der Kinderrechte leider in den letzten Jahren in vielen Ländern Rückschritte erfahren. Trotz weiträumiger Ratifizierung [Anm. der Red.: Bestätigung] der UN-Kinderrechtskonvention werden die Rechte der Kinder in vielen Staaten weiter missachtet: Überall auf der Welt beeinträchtigt Armut Kinder überproportional [Anm. der Red.: besonders stark]. Wir beobachten schwere Kinderrechtsverletzungen oder ausbeuterische und gesundheitsgefährdende Kinderarbeit. Nach wie vor können weltweit Millionen Mädchen und Jungen nicht in die Schule gehen. Sie leiden besonders unter Kriegen, Flucht und Vertreibung, die in den vergangenen Jahren noch einmal zugenommen haben.“

JIZ: Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland in Bezug auf die Kinderrechte? Vor einiger Zeit wurde auch in der Presse über die Aufnahme der Kinderrechte in´s Grundgesetz diskutiert. Wurde hier ein Fortschritt erreicht und warum ist dies bis jetzt gescheitert.

Herr Hofmann: Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat bereits mehrfach die Tendenz von Staaten kritisiert, die Kinderrechte zu übersehen, wenn sie nicht besonders erwähnt werden. Daher rät er, diese explizit in Gesetzen und insbesondere in der Verfassung zu verankern. Auch die Bundesregierung hat diese Empfehlung mehrfach erhalten. Denn fast 30 Jahre nach Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte des Kindes, zeigt sich in Deutschland noch immer ein Umsetzungsdefizit in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung.

Kinder sind zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grundrechtsträger. Doch dieselben Gründe, die die Staatengemeinschaft dazu veranlassten, eine eigene Konvention für Kinder zu verabschieden, obwohl es bereits internationale menschenrechtliche Verträge gab, sprechen auch dafür, neben den bereits für alle Menschen geltenden Grundrechten, besondere Rechte für Kinder in der Verfassung zu verankern. Im Gegensatz zu Erwachsenen können Kinder ihre Rechte nicht selbst einfordern und verteidigen und sind bei der Umsetzung ihrer Grundrechte auf den besonderen Schutz, die Förderung und die Beteiligung durch die Gesellschaft angewiesen.

Die entscheidende Frage ist, ob die substanzielle [Anm. der Red.: grundsätzliche] Änderung im Katalog der Grundrechte unserer Verfassung auch einen echten Fortschritt für Kinder bringen kann. Die vor einigen Monaten von der Bundesregierung vorgelegte Formulierung war in dieser Hinsicht eine herbe Enttäuschung, da sie keine effektive Stärkung der Kinderrechte bedeutet hätte. Vielmehr barg sie das Risiko von Verschlechterungen in sich, in einer Abkehr von der bisherigen völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Deshalb ist es gut, dass die Grundgesetzänderung gescheitert ist, und die nächste Bundesregierung ist dringend aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der auf den Kernprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention, der EU-Grundrechtecharta und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes basiert.

JIZ: Wie sieht die Zukunftsperspektive aus? Wenn die Kinderrechte ins Grundgesetz übernommen werden würden, was würde sich konkret an der Situation von Kindern und in ihrem alltäglichen Leben ändern? Hätte dies vielleicht auch Auswirkungen auf andere Länder?

Herr Hofmann: Mehr als 30 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention sind die Kinderrechte auch in Deutschland noch nicht vollständig umgesetzt. Deswegen fordert das Deutsche Kinderhilfswerk einen Aktionsplan für ein kinderfreundliches Deutschland, der auf der politischen Agenda ganz oben steht. Nur mit einem solchen Plan kann die Lage der Kinder grundlegend verbessert werden. Kernpunkte eines solchen Aktionsplans sollten beispielsweise sein:

  • die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz,
  • wirkungsvolle Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut,
  • die strukturelle Verankerung der Kinder- und Jugendbeteiligung oder
  • die quantitative und qualitative Stärkung der frühkindlichen Bildung und die Steigerung der Bildungsgerechtigkeit.

Eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz anhand von Eckpunkten, wie sie etwa das Aktionsbündnis Kinderrechte fordert, hätte konkrete Auswirkungen auf das Leben von Kindern in Deutschland: bei der Berücksichtigung der kindlichen Interessen bei Gesetzesverfahren, in Gerichts- und Verwaltungsentscheidungen und mit einer weitgehenden Formulierung in nahezu allen Politikfeldern. Aufgrund der „Strahlkraft“ des Grundgesetzes würde die Berücksichtigung der Kinderrechte über alle Rechtsgebiete hinweg gestärkt. Beispielweise bei der Partizipation [Anm. der Red.: Teilhabe] auf kommunaler [Anm. der Red.: Gemeinde-] Ebene in Feldern wie der Stadtplanung, in Schule und Kita. Oder bei der Förderung von Kindern hin zu einem chancengerechteren Aufwachsen, bei der besseren Berücksichtigung der Kinderrechte in der Haushaltsplanung oder bei der Implementierung [Anm. der Red.: Einbau und Umsetzung] des „Feldes“ Kinderrechte in der juristischen Ausbildung, um nur einige Beispiele zu nennen. Während der Corona-Pandemie haben wir immer wieder erlebt, wie die Interessen und Belange von Kindern systematisch in den Hintergrund gedrängt wurden, sie waren einfach nicht so wichtig. Wir sind überzeugt, das würde sich mit einer Stärkung der Kinderrechte auf Verfassungsebene ändern lassen. Die Zukunft unseres Landes wird maßgeblich davon abhängen, wie es uns gelingt, die Interessen der nachwachsenden Generationen zu berücksichtigen. Die Klimakrise zeigt uns, dass die Perspektive der Erwachsenengeneration zu kurz greift. Wenn es uns gelingt, in dieser Hinsicht Fortschritte zu erzielen, wird sich das auch auf andere Länder auswirken.

 


Wir bedanken uns bei dem Deutschen Kinderhilfswerk und besonders bei Herrn Hofmann für die Zeit und Bereitschaft, dieses Interview mit uns zu führen und für die vielen interessanten Einblicke.

Das Interview führte Marcel Zwiefelhofer.

 

Bild: DominikRh ©pixabay

 

 

 

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