Der Hamburger Jugendserver

Unschuld und gefährliche Stimmen

Ein Artikel von Cherik

 

Unschuld und gefährliche Stimmen

Eine Geschichte von Cherik (Schreibgruppe der JVA Hahnöfersand).


 

Der kleine Junge ist sechs Jahre alt. Mit seinen Eltern besucht er die Nachbarn. Sie kochen und essen zusammen, danach wollen sie sich einen Film anschauen. Der kleine Junge spielt mit den Kindern der Nachbarn Playstation im Kinderzimmer. Nach ein paar Stunden treffen sich alle im Wohnzimmer, um den Film zu gucken. Aber dieser Film ist für Kinder unter sechzehn Jahren gar nicht erlaubt.

Trotzdem schaut der kleine Junge den Film an, zusammen mit den anderen. Er findet ihn interessant und will weitergucken. Aber der Film ist richtig schrecklich: Ein alter Mann wohnt in einem alten Haus im Wald, ein paar Kilometer weiter ist eine Tankstelle. Der alte Mann beobachtet den ganzen Tag mit einer Kamera die Tankstelle. Manchmal läuft der alte Mann schnell auf die Straße und legt eine Nadel oder Glasstücke auf die Straße. Wenn der Wagen kommt, geht davon der Reifen kaputt. Und es gibt keine Werkstatt in der Nähe, die ist drei oder vier Stunden entfernt - nur die Tankstelle und das Haus, in dem der alte Mann wohnt. Der kommt, um den Leuten im Auto zu helfen. Aber er hat etwas anderes vor. Er bietet den Leuten an, über Nacht in seinem Haus zu bleiben. Und sagt, dass morgen sein Mitbewohner kommt, der in der Stadt in der Werkstatt arbeitet. Momentan ist er aber nicht da. „Ich habe für euch genug Platz“, sagt der alte Mann. Er unterhält sich nett mit den Leuten, und die sagen: „Ok“. Der alte Mann fragt, von woher die Leute kommen, und sie antworten, dass sie gerade zu einem Festival unterwegs sind. Der alte Mann sagt, dass er morgen gerne mitkommen will. Alle freuen sich: „Wie geil, dann bleiben wir heute bei dem alten Mann - wie cool!“ Der alte Mann zeigt den Leuten den Weg zu seinem Haus. Und ein paar Stunden später hat sein Plan geklappt: Um zwei Uhr nachts bringt der alte Mann etwas zu trinken, Weißwein.

Der Vater des Jungen steht auf und macht den Fernseher aus. „Was macht der alte Mann denn jetzt?“, fragt der kleine Junge. Er will den Film bis zum Ende gucken. Aber er darf nicht. „Niemand hat gemerkt, was der alte Mann gemacht hat“, sagt er zu seinem Vater. „So wie der alte Mann, so will ich auch sein.“ „Das war doch nur ein Film, mein Sohn“, sagt der Vater. Der kleine Junge schaut seinen Eltern dabei in die Augen. Und er spürt, dass beide sich für das schämen, was er gerade gesagt hat.

Nach ein paar Monaten hat der kleine Junge den Film immer noch nicht vergessen. Er fragt seine Mutter: „Hast du gesehen, was der alte Mann gemacht hat?“ „Welcher alte Mann?“ „Der in dem Film!“ Die Mutter sagt: „Hey, du darfst auf gar keinen Fall solche Sachen machen! Das war nur ein Film. Und den musst du komplett vergessen.„

„Ok“, sagt der kleine Junge. Aber er vergisst ihn nicht. Er denkt an den alten Mann und fragt sich, was er wohl noch gemacht hat. Er träumt oft davon.

Der Junge ist jetzt ein paar Jahre älter und kommt nach Europa. Er hat lange Zeit nicht mehr an den Film gedacht, aber jetzt, in Griechenland, träumt er davon. Er ist im Flüchtlingslager und hat ein eigenes Zimmer. Er träumt von dem Film und von dem alten Mann. Das sind die besten Minuten seines Lebens. Aber es ist auch gefährlich. Es ist eine schlechte Stimme in seinem Kopf, die will mit ihm spielen.

Einen Monat später kommt er nach Deutschland, nach Hamburg. Fast jede Nacht träumt er von dem alten Mann. Wenn er wach wird, denkt er immer noch daran. „Egal wie – das muss aufhören“, denkt er sich. Es ist wie eine Droge. Wie eine Sucht. Die Träume hören nicht auf. Und er hat Angst. Angst vor einer Strafe. Angst, dafür Schläge zu bekommen.

Inzwischen spricht der Junge oft mit einer Psychologin. Er fühlt sich sehr viel besser. Und er hat eine Bitte an alle Mamas und Papas auf der Welt: Passen Sie auf Ihre Kinder auf. Und lassen Sie Ihre Kinder nie solche Filme schauen.

 


Bildnachweis: Zeichnung © Cherik/JVA Hahnöfersand
Die Klarnamen der Verfasser sind durch Pseudonyme ersetzt.

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